Erste Liebe, erster Kuss

 

Die Stelle auf dem Feld, an der früher ein großer Apfelbaum gestanden hatte, ist heute leer und verwaist.

Er war sehr alt, mit dickem Stamm, und er hatte mächtige Äste.

Eigentlich hat er mich lange Jahre begleitet, ohne dass ich größere Notiz von im genommen hätte. Erst viel später lernte ich es ihn zu beachten, und es tat weh, als sie ihn gefällt hatten und ich ihn, auseinandergesägt und zu einem großen Holzstoß gestapelt, auf der Erde liegen sah.

Aber das ist schon lange her.

Und noch viel länger ist es her, als das alles anfing. Wir waren blutjung und es begannen die frühen sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts.

 

Nach der Schule und den Hausaufgaben hielt uns nichts mehr zu Hause. Über eine zu dieser Zeit noch relativ wenig befahrene Bundesstraße, die im Groben unser kleines Dorf von der damals noch relativ unberührten Natur trennte, gelangte man zu den unterschiedlichsten Zielen, die alle ziemlich interessant für uns waren: Ein Wasserwerk, das etwas außerhalb unseres kleinen Ortes in den zwanziger Jahren gebaut worden war, und das einen kleinen Aussichtsturm mit richtigen Zinnen besaß, der wild umwuchert von Bäumen und Büschen, kaum sichtbar, auf einer Anhöhe stand.

Weiter, über die Felder, gelangte man an einen Waldrand, in dessen Schutz man Baumhäuser und Verstecke bauen und die wildesten Spiele veranstalten konnte, wie zum Beispiel eine Strecke von etwa fünfzig Metern über Bäume zurückzulegen, ohne dabei den Boden zu berühren. Es hatte wahrhaftig etwas mit Artistik zu tun.

Im Spätsommer, nachdem das Korn gedroschen und das Stroh zu großen Ballen gepresst worden war, errichteten die Bauern aus den Strohballen meterhohe, rechteckige Strohhaufen, auf denen man verbotenerweise herumklettern und -toben konnte, und in die wir Gänge und Höhlen gruben. Die Bauern dürften über das nicht so erfreut gewesen sein, wir aber hatten einen unheimlichen Spaß daran.

Ein kleinerer Strohhaufen befand sich auch in der Nähe des mächtigen Apfelbaums, den ich fast als Eigentum betrachtete, da ich dort  gelegentlich auch alleine spielte.

 

Im Laufe der Zeit, in der die Strohhaufen so langsam verschwanden, wurden wir älter und reiften so langsam heran. Unbewusst stießen wir nun an eine Schwelle, die uns in das nächste große Abenteuer führen würde.

Die Instinkte waren bereits erwacht und in die Spiele, die wir spielten, wurden in Gedanken jetzt auch Mädchen mit einbezogen.

Das Wasserwerk und seine Umgebung gerieten zu einer Insel, auf die wir uns nach einem Schiffbruch retten konnten. Auf dieser Insel hatten wir es mit jeder Menge wilder Einheimischer und Räuberbanden zu tun, gegen die es zu kämpfen galt. Die unsichtbaren Gegner machten wir selbstverständlich reihenweise nieder und zur Belohnung erstürmten wir die Herzen der hübschesten Mädchen, mit denen zusammen wir uns die Insel untertan machten. Noch waren die Mädchen nur unserer Phantasie entsprungen, aber es sollte sich in nicht allzu ferner Zukunft ändern ...

 

Mittlerweile sind wir in den späten sechziger Jahren angelangt.

In dem kleinen Ort, in dem unser Zuhause war, fand in dieser Zeit an dem Faschingswochenende ein kleiner Umzug statt. Nicht, dass wir uns in einer der Faschings- und Fasnetshochburgen Deutschlands befinden, und ebenso wenig in einer der Hochburgen Baden-Württembergs, aber damals gab es auch in unserem Ort einen feinen, überschaubaren Umzug.

Auch heute gibt es zwar immer noch einen Narrenverein, der am schmutzigen Donnerstag - wie er hier genannt wird - bei Glühwein und Würstchen und in kleinem Rahmen ein paar Hexen loslässt und am Samstag darauf eine Faschingsveranstaltung mit einem provinziellen Programm durchführt, aber damals gab es wenige Jahre hintereinander auch einen Umzug.

 

Man darf sich unter diesem Umzug nun wirklich nichts Grandioses vorstellen. Ein paar Vereine, inklusive Sport-, Musik- und Gesangverein, hatten sich zusammengeschlossen, richteten ein paar Wagen, besetzten diese mit kostümierten Leuten und stellten dabei irgendwelche Szenen dar. Mit diesen unterschiedlichen Wagen samt Besatzung wurde ein Zug gebildet, den man am Sonntag von einem zum anderen Ende des Ortes und wieder zurück, vorbei an den staunenden Einwohnern, mit dem Zielpunkt Gemeindehalle, laufen ließ. Dort gab es anschließend einen Kinderfasching, der nahtlos in eine Faschingsveranstaltung für Erwachsene am Abend überging.

 

Wieder war es der Sonntag vor dem Rosenmontag und dem Faschingsdienstag, und wieder einmal wurde der Faschingsumzug veranstaltet.

Zwei meiner Freunde, Michael und Werner, hatten in diesem Jahr mit mir zusammen beschlossen, uns diesen Umzug endlich mal anzusehen. Wir trafen uns gleich nach dem Mittagessen an diesem zwar eiskalten, aber sehr sonnigen Sonntagnachmittag. Interessant für uns war natürlich der Platz, an dem der Zug seine Aufstellung nahm. Er befand sich am Ortsrand, der für uns nicht in allzu weiter Entfernung lag und somit gut erreichbar war.

Gut gelaunt machten wir uns auf den Weg, und ich war mir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bewusst, dass sich in ein paar Stunden meine ganze Welt verändert haben würde.

 

Wir erreichten über Nebenstraßen schließlich den Platz, an dem ein recht fröhliches Tohuwabohu herrschte. Wir schauten unter einer strahlenden Sonne den Bemühungen von Frauen und Männern zu, einen Faschingsumzug so zu aufzustellen, dass man diesen dem Publikum, das sich in froher Erwartung am Straßenrand aufreihte, am abwechslungsreichsten präsentieren konnte.

Dort trafen wir unsere ehemaligen Klassenkameradinnen Claudia und Gertraud - im selben Alter wie wir - die als eine Art Funkenmariechen, mit kurzen blauen Kostümen, trotz der Sonneneinstrahlung in ihrer spärlichen Bekleidung vor sich hin schlotterten. Ehemalig deshalb, weil Michael und ich eine andere Schule besuchten. Für Werner war es keine Besonderheit, er sah sie an jedem Schultag. Wir wechselten nur ein paar Worte und sahen dem allgemeinen bunten Treiben zu.

Schließlich setzte sich der Zug in Bewegung und voller Begeisterung liefen wir mit. Oft zwischen den Zuschauern hindurch, mal vorne am Zug, mal hinten und mal in der Mitte.

Das schönste war ein riesiges Schaukelpferd, auf dem vier wackere Cowboys die Familie Cartwright aus der legendären Fernsehserie Bonanza nachzustellen versuchten. Wahrscheinlich waren die Helden der Serie noch nie so betrunken gewesen, wie Hoss und Little Joe auf dem überdimensionalen Schaukelpferd. Zu welchem Zeitpunkt diese beiden mit dem Trinken begonnen hatten, ob erst an diesem Sonntagmorgen oder bereits am Samstagabend, das war uns natürlich nicht bekannt. Auf jeden Fall sprachen sie über die gesamte Dauer des Umzugs dem Feuerwasser zu. Dieser Umstand, und dazu die begeisterten Zuschauer am Straßenrand, spornten sie zu den komischsten Dingen an. Und zum guten Schluss fielen sie kopfüber, vom Alkohol erschossen, von ihrem Schaukelpferd.

 

Letztendlich erreichte der Umzug seinen Endpunkt, den Rathausplatz, wo er sich schließlich auflöste.

Ich wollte eigentlich gar nicht in die danebenliegende Gemeindehalle mit hineingehen, aber meine beiden Freunde überredeten mich.

Drinnen tranken wir eine Cola und auch hier herrschte, beim Spiel des Musikvereins, ein ausgelassenes Treiben. Plötzlich tauchten auch Claudia und Gertraud wieder auf.

Gerti war ein hübsches Mädchen mit langen, weißblonden Haaren und braunen Augen. Eigentlich stammte sie aus Österreich und war mit ihrer Familie vor nicht allzu langer Zeit hierhergezogen. Meine Erinnerung an unsere gemeinsame Schulzeit war nur die, dass sie mir einmal einen österreichischen Schilling geschenkt hatte, den ich, zusammen mit einigen anderen ausländischen Münzen, in einer Blechdose, in der sich einst Zigarillos befunden hatten, als kleine Kostbarkeit aufbewahrte.

Gerti und Claudi setzten sich zu uns an den Tisch. Über was wir alles gesprochen haben, weiß ich nach dieser langen Zeit natürlich nicht mehr. Was blieb, ist die Gewissheit, dass es zwischen Gerti und mir mächtig gefunkt haben musste. Jedenfalls regte sich ein ganz neues Gefühl in mir, das ich nicht zuordnen konnte. Richtig bewusst wurde es mir aber erst am Abend, viele Stunden später, als ich in meinem Zimmer, im Bett unter der Bettdecke lag. Ich musste am nächsten Tag zur Schule und sollte eigentlich rechtzeitig schlafen.

Aber diesmal war alles anders.

Ein unbekanntes Fieber hatte mich gepackt, das mich nicht einschlafen ließ. Mit einem kleinen Transistorradio, das nur zwei oder drei Rundfunkstationen hereinbrachte, lag ich unter der Decke und hörte Musik. Es war Fasching und Karel Gott besang seine ‚Lady Karneval‘ und ich wusste plötzlich, warum er so ein Lied sang. Ich habe zwar nie mit Gertraud getanzt, aber als Peter Alexander noch ‚Der letzte Walzer mit dir‘ sang, da hielt ich in Gedanken Gerti in meinen Armen und wir tanzten in der Gemeindehalle zu diesen Klängen. Dieses neue Gefühl, das nun immer stärker wurde, schien mich beinahe zu erdrücken.

Am liebsten hätte losgeheult, denn ich hatte mich zum ersten Mal in meinem Leben verliebt!

Glücklicherweise hatten wir die jungen Damen für den Faschingsdienstag zu Michael eingeladen und sie hatten versprochen, falls nichts dazwischenkäme, zu dieser kleinen Party zu kommen.

Die Vorfreude beruhigte mich schließlich und irgendwann schlief ich auch ein.

 

Am Rosenmontag fuhr ich, wie üblich, mit dem Zug in die Stadt zum täglichen Schulunterricht, der mich heute überhaupt nicht interessierte. Innere Jubelstürme erzeugte nur die Mitteilung, dass kurzfristig am Faschingsdienstag den kompletten Tag kein Unterricht stattfinden würde.

Der Schulaufenthalt an diesem Montag war zäh und von innerer Unruhe geprägt. Auch am Nachmittag legte sich meine Nervosität nicht.

Mein Herz stand lichterloh in Flammen!

Ich besuchte am Nachmittag Michael und wir hielten beide nach Werner Ausschau. Kamen nun die Mädchen am morgigen Dienstagnachmittag oder hatten sie es sich zwischenzeitlich vielleicht anders überlegt? Eine Lösung dieses Rätsels gab es an diesem Tag leider nicht. Werner war mit seinen Eltern unterwegs und wir konnten nicht mit ihm reden. Enttäuscht ging ich nach Hause, in mein Zimmer, und trauerte.

 

Letztendlich brach der Dienstag an, und ich konnte es nicht erwarten bis es halb zwölf war, denn um diese Zeit wollte ich mich mit Michael treffen. Gemeinsam gingen wir schnurstracks zu Werner, aber er war wieder nicht zuhause.

Meine Stimmung sank ins Bodenlose, da wir immer noch keine endgültige Bestätigung hatten.

Trotz alledem gingen wir nun zu Michael und verteilten in seinem Zimmer einige Luftschlangen und Luftballons, die ich bereits am frühen Morgen besorgt hatte. Wir überlegten uns dabei, was wir außer Knabberzeug und Getränken den Mädchen noch alles bieten konnten.

Zum Mittagessen ging ich kurz heim, um traditionell die sogenannten Faschingsküchle zu essen. Da sie nur an diesem einen Tag zur Mittagszeit auf den Tisch kamen, waren sie schon immer einer meiner Lieblingsspeisen gewesen. Die große Vorfreude auf den seltenen Genuss kam diesmal erst gar nicht auf. Auch das Essen selbst verlief anders als gewohnt, und ich ertappte mich, dass ich diese Köstlichkeiten recht teilnahmslos in mich hineinstopfte.

Nach dem Essen wurde ich sofort ungeduldig und verließ bei nächster Gelegenheit das Elternhaus und machte mich auf den Weg.

 

Wir hatten uns um vierzehn Uhr verabredet, aber ich war bereits eine halbe Stunde früher bei Michael. Werner tauchte schließlich auch auf und überbrachte die gute Nachricht, dass ihm die Mädchen am Morgen nochmals bestätigt hatten, dass sie heute Nachmittag auf jeden Fall kommen wollten.

Es war heute das gleiche Wetter wie am Sonntag davor: Sonnig und kalt.

Wir warteten im Freien und die Zeiger der Kirchturmuhr, die wir von der Straße aus gut sehen konnten, rückten an diesem Tag mit schier unerträglicher Langsamkeit von der einen zu der anderen Minute. Letztendlich hatten die Zeiger zwei Uhr erreicht und die Glocke bestätigte dies auch.

Es tauchten aber nicht die beiden Mädchen, sondern ein weiterer Freund von uns auf.

Also den konnten wir jetzt ja nun absolut nicht gebrauchen!

Er gesellte sich zu uns und musste unsere ablehnende Haltung gleich bemerkt haben. Auf die Frage, was wir nun mit dem angebrochenen Nachmittag machen sollten, gaben wir nur ausweichende Antworten.

In unseren Köpfen hallte wahrscheinlich überall der gleiche Satz: Hoffentlich geht er, bevor die Mädchen kommen!

Und ich setzte noch ein ‚hoffentlich kommen die Mädchen überhaupt‘ hinzu. Unser Freund schlich sich mit uns auf der Straße herum, bis es ihm das Ganze dann doch zu blöd wurde. Ohne weitere große Worte verschwand er schließlich und wir atmeten hörbar auf.

Das war gerade rechtzeitig genug passiert, denn es tauchten nun tatsächlich die Mädchen auf. Sie waren zu dritt, denn sie hatten noch eine ehemalige Klassenkameradin mitgebracht, die mit ihren Eltern weggezogen war und nicht mehr in unserem kleinen Ort wohnte.

Mein Herz machte ein paar freudige Sprünge, rutschte dann durch meine Kleidung auf die Straße, wo es liegenblieb und den Asphalt zum Glühen brachte. Alles was ich je über Verliebtsein gehört, gelesen oder im Fernsehen gesehen hatte, konnte ich mit einem Mal ganz genau verstehen. Es ging mir kein Haar anders.

Wie ich aber im Verlaufe dieses Nachmittags bei unseren Spielen, beim Radiohören und bei den Gesprächen feststellen konnte, musste es Gerti ähnlich ergehen. Es war alles bereits da, nur wusste keiner von uns beiden, wie wir nun reagieren sollte.

Später überquerten wir noch die bereits angesprochene Trennlinie, die Bundesstraße, hinaus in Richtung der Felder und des großen Apfelbaums. Dort machten wir noch einigen Unsinn und zum krönenden Abschluss ein Fangspiel. Bei diesem Fangspiel gab es auch den ersten körperlichen Kontakt zwischen Gerti und mir. Ich hatte sie gefangen und umfasste sie mit beiden Armen. Sie hatte trotz der kalten Witterung ein erhitztes und gerötetes Gesicht, und war wegen der Herumtollerei ganz außer Atem. Sie versuchte sich zu befreien und dabei berührten sich unsere Gesichter. Ganz kurz drückten wir unsere Wangen aneinander und Gerti versuchte sich nun nicht mehr loszureißen. Langsam löste sie ihre Wange von der meinen und schaute mich lächelnd an. Dabei fiel ich in ihre Augen und wäre beinahe darin ertrunken.

Dann war der schöne und erregende Moment vorbei.

Die Mädchen mussten Renate, das war die dritte der jungen Damen, die ja nicht hier wohnte, zum Bus bringen und anschließend nach Hause gehen.

Wir verabschiedeten uns voneinander und als Gerti mir die Hand drückte und mich ansah, da bohrte sich ihr Blick komplett durch mich hindurch und ich hatte sicherlich zwei Löcher im Hinterkopf.

 

Anschließend gingen wir Jungen noch zu Michaels Tante und spielten dort Fußball im Hof, unweit von der Kirche und dem Rathaus entfernt, sprachen über den vergangenen Nachmittag und darüber, dass wir uns wieder einmal mit den Mädchen treffen sollten.

Unser Freund, der uns ja bereits vor ein paar Stunden genervt hatte, kam wieder hinzu und spielte auch mit. Er fragte ketzerisch, ob es schön mit den Mädchen gewesen wäre, aber wir stritten natürlich alles ab.

Wir und Mädchen, nein!

Er musste wohl aus der Ferne unser Zusammentreffen beobachtet haben, aber wir gaben nichts zu. Keiner von uns.

 

Das Verliebtsein wurde nun mein ständiger Begleiter und ich lernte in diesen Tagen, wie man damit umzugehen hatte.

 

Pferdemarkt in der Stadt: Ein alter Brauch, der sich über die Jahre hinweg gehalten hatte. Ursprünglich ging es hauptsächlich um den Kauf und Verkauf von Pferden. Heute war dies eigentlich nur noch Nebensache. es war ein kleines Volksfest, das immer Ende Februar oder Anfang März stattfand. Viele Händler mit kleinen Ständen und festen Buden lockten das junge und alte Publikum zum Sehen, Staunen und Kaufen an. Vom garantiert unzerreißbaren Bindfaden über Gesundheitstees und Spezialsocken gegen Schweißentwicklung wurde fast alles angeboten. Händler, die pfundweise Bananen, Südfrüchte oder Blumen zu unglaublichen Preisen verhökerten, gehörten ebenso dazu wie Stände mit wertvollem Schmuck, der so echt war, dass er zu Spottpreisen über die Standtheke gehen konnte. Natürlich durften Wurstbuden, Stände mit Süßigkeiten und ein paar kleinere Attraktionen, wie ein Karussell und ähnliche Vergnügungen nicht fehlen. Über allem lag, wenn die Veranstalter mit dem Wetter Glück hatten, der erste Hauch von Frühling oder wenn nicht, war es eben ein Fest, auf dem man hoffte, dass der Winter bald seinen Abschied nehmen und dem Frühling Platz machen würde.

 

In dem Jahr von dem wir sprechen, war leider nur die Hoffnung angesagt.

Es war ein kalter und trüber Wintertag und es war gerade so warm, dass der Niederschlag nicht als Schnee, sondern als Regen niederging.

In den Schulen der Stadt, und das war das Glück, das ich hatte, war aufgrund des Pferdemarktes an diesem Montag kein Unterricht. Ich war also zu Hause, wollte aber an diesem Tag doch noch mit dem Zug in die Stadt fahren. Es war nicht das Wetter, nicht der Pferdemarkt und auch nicht meine beiden Freunde, die es ausmachten, dass ich um jeden Preis in die Stadt kommen wollte. Es war ein blonder Engel, der mich gerufen hatte, und das hatte vollauf genügt.

 

Gerti und ihre Freundin Claudi befanden sich bereits in der Stadt und besuchten Renate. Meine beiden Freunde und ich wollten uns am frühen Nachmittag mit den dreien auf dem Pferdemarkt treffen. Das Treffen war von den Mädchen so verabredet worden und wurde uns am Sonntag durch Werner übermittelt. Also machten wir uns an diesem Montagnachmittag zum Pferdemarkt auf und standen dort zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort und warteten. Wir beobachteten das Treiben um uns herum und froren so schön gemütlich im Nieselregen vor uns hin, als plötzlich für mich die Sonne aufging. Sie kamen. Die blonden Haare leuchteten schon von weitem und mein Herz ließ wieder ein paar verrückte Sprünge.

Es wurde ein wunderschöner Nachmittag, obwohl der Nieselregen gar nicht nachlassen wollte. Wir drückten uns durch die Stände und Budenreihen, aßen Würstchen, tranken Cola und machten auch nicht vor anderen Leckereien halt. Natürlich hielt ich mich so oft es ging immer in allernächster Nähe von Gerti auf und wir lachten uns genauso oft auch an.

Am späten Nachmittag fuhren wir zu fünft zurück. Renate hatte uns noch bis zum Bahnhof begleitet und war von da aus dann nach Hause gegangen. Die beiden Mädchen und wir drei Jungen standen im Zug zwischen den Abteilen und unterhielten uns. Ich stand etwas abseits von den Mädchen, die sich flüsternd unterhielten. Dann kam der große Moment: Claudi kam zu mir herüber, nahm mich zur Seite und flüsterte nun ebenfalls etwas ins Ohr, das mir ganz wackelige Knie machte. „Ich soll dich von Gertraud fragen, ob du mit ihr gehen willst.“ Mein Herzschlag drohte auszusetzen. Ohne lange zu überlegen, sagte ich „ja“, und das war es. Eine beschlossene Sache, dass von nun an Gerti meine Freundin war - und ich natürlich ihr Freund.

Dass diese mündliche Vereinbarung noch bestätigt werden musste, wurde mir am Abend dieses Tages noch vollkommen klar.

 

Am nächsten Tag musste ich wieder zur Schule. Von dem Fenster meines Klassenzimmers aus, konnte man das Veranstaltungsgelände des Pferdemarktes genau überblicken. Ich fieberte dem Ende des heutigen Unterrichts entgegen, wie schon lange nicht mehr, denn ich hatte noch etwas Besonderes zu erledigen. Auch heute gab es wieder den Nieselregen vom vergangenen Tag, der mich aber nicht im Geringsten störte. Ich ging nach Schulschluss auf das Veranstaltungsgelände. Es interessierten mich aber nur wenige Stände: Die mit dem wertvollen Billigschmuck! Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was man einem Mädchen schenkt, aber nach langem Suchen fand ich eine Kette mit einem kleinen Anhänger, der mir gefiel. Das Schmuckstück kostete drei Mark und es war damals für mich eine Menge Geld. Aber ich kaufte die Kette trotzdem. Für Gerti war mir nichts zu teuer.

Erneut gab es das Spiel, dass ein Unterhändler, in diesem Falle wieder mal Werner, herhalten musste, um dieses wertvolle Geschenk schnellstmöglich zu übergeben, was er auch tat.

Als Dank erhielt ich einige Tage später einen wunderbaren Liebesbrief, der sich über die Jahre hinweggerettet hat und sich auch heute noch in meinem Besitz befindet. Ein Kleinod, dessen Inhalt nur für mich bestimmt war, und den ich auch nicht weitergeben werde. Auch nach Ablauf der ganzen Jahre nicht.

 

Was das Gehen mit Gertraud bedeutete, kann man sich heute, in dieser so aufgeklärten Zeit gar nicht mehr vorstellen. Auch ich selbst muss zugeben, dass, wenn ich daran denke, mich ein gewisses Schmunzeln überkommt.

 

Es waren zum Beispiel die Sonntage: Ich saß in meinem Zimmer oder im Wohnzimmer mit meinen Eltern und schaute immer wieder zum Fenster hinaus. Plötzlich geschah es: Claudi und Gerti spazierten auf der Straße an unserem Haus vorbei. Danach war Eile angesagt. Ein harmloses „ich gehe mal eben zu Michael“ kam über meine Lippen, dann zog ich meine Schuhe und meine Jacke an und verschwand auf dem schnellsten Wege. Ich holte die beiden ein und wir gingen gemeinsam an dem Haus von Michaels Eltern vorbei. Dieser war auch gleich zur Hand und Werner, dessen Elternhaus schräg vis-à-vis stand, hatte ebenfalls das Ganze bereits mitbekommen. Schnell waren wir zu fünft, des Öfteren kam Renate mit dem Bus oder dem Zug aus der Stadt zu uns ins Dorf gefahren, und wir waren dann zu sechst. Wir gingen meistens über die Bundesstraße, wo es uns am besten gefiel, und wo wir auch am allerwenigsten gestört wurden. Dort gingen wir auf den asphaltierten Feldwegen spazieren oder saßen da draußen irgendwo herum und unterhielten uns. Das war mein Gehen mit Gertraud. Es war eine wunderschöne Zeit. Bei den anderen entwickelte sich nichts ähnliches, es war aber sicher auch für meine beiden Freunde ganz interessant, einmal mit Mädchen zu reden und herumzuspazieren, als immer nur mit den anderen Jungen zusammen zu sein.

 

Der Frühling kam nun mit Macht und die gemeinsamen Treffen in der erwähnten Besetzung wurden jetzt seltener und hörten dann ganz auf, denn auch Michael hatte in dieser Zeit seine erste Liebe gefunden. Ihr Name war Sylvia. Wir sprachen zwar über unsere Mädchen, aber zusammen kamen wir nur ein einziges Mal.

 

Das war dieser denkwürdige Tag, den ich in meinem ganzen Leben nicht mehr vergessen werde.

Es war ein ganz normaler Nachmittag unter der Woche. Mehr oder minder zufällig fand die Begegnung statt, an der Werner, Sylvia, Michael, Gerti und ich beteiligt waren.

Wir waren mit den Fahrrädern unterwegs, hatten miteinander geredet und waren wieder über die Bundesstraße auf die asphaltierten Feldwege gegangen.

Genau dort, wo der alte, mächtige Baum stand, da sprachen wir über das Küssen.

Von den beiden Mädchen weiß ich es nicht, aber Michael und ich hatten noch niemals jemanden anderen Geschlechts geküsst.

Letztendlich hatte Werner die glorreiche Idee gehabt. Er zog eine Zehnpfennigmünze heraus und ließ Michael und mich wählen. Er würde die Münze hochwerfen, mit der rechten Hand auffangen und auf die Rückseite seiner linken Hand schlagen. Der, den es traf, der ‚musste‘ hinter den Baum gehen und seine Freundin küssen. Ich wählte Wappen, Michael nahm logischerweise Zahl. Werner warf die Münze und Zahl erschien, als er die Hand von der abgedeckten Münze nahm. Es entstand, um etwas Zeit zu gewinnen, noch eine kurze Diskussion, nach deren Ende Sylvia und Michael hinter dem Baum verschwanden, und wir anderen, ich mit Puddingfüßen, auf dem Feldweg bei den Fahrrädern zurückblieben.

Kurz darauf kamen die beiden, verlegen grinsend, wieder hinter dem Baum hervor.

Jetzt gab es kein Pardon! Gerti und ich waren an der Reihe. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich zusammen mit ihr hinter den Baum schritt. Sie ging mutig voraus. Dort, wo uns niemand sehen konnte, drehte sie sich zu mir um und umfasste mit beiden Armen entschlossen meine Schultern. Zaghaft und überall bebend nahm ich sie nun ebenfalls in meine Arme. Wir sahen uns tief in die Augen. Sie brachte ihren Mund ganz langsam an den meinen heran und dann berührten sich unsere Lippen. Zuerst zögerte ich, doch dann drückte ich meinen Mund fester gegen ihre Lippen. Ich stand wie unter Starkstrom, die Erde schien zu schwanken und mir wurde beinahe schwindlig. Dann lösten wir uns wieder voneinander. Nicht nur ich, sondern auch Gerti hatte einen hochroten Kopf bekommen.

Schnell war der Zauber des Augenblicks vorüber.

Wir gingen langsam wieder zu den anderen zurück. Auf dem Feldweg stehend, sprachen wir noch kurz miteinander und trennten uns dann relativ schnell.

Kopflos und voller Hast fuhr ich mit dem Fahrrad nach Hause und war froh, meine Mutter bei der Gartenarbeit zu sehen.

Ich fühlte mich erhitzt und war völlig außer Atem.

Der nächste Weg führte mich ins Badezimmer und dort an den Spiegel. Ich betrachtete mein Gesicht ganz genau, ob sich nicht verräterische Spuren eingegraben hatten. Das war aber nicht der Fall.

Küssen verursacht also keine körperlichen Wunden!

Höchstens seelische, aber das wusste ich damals noch nicht so genau.

 

Der Rest ist schnell erzählt, denn das war auch bereits der Anfang vom Ende.

Ich habe mich noch einige Male mit Gerti alleine oder zusammen mit anderen getroffen. Wir sind beide gleichaltrig und das war damals auch das Problem. Sie war reifer und ich noch ein ziemlich naiver Junge.

Es gab noch die eine oder andere verstohlenen Zärtlichkeit, aber dann trennten sich unsere Wege.

Ganz aus den Augen verloren wir uns zwar nie, aber jeder ging seine eigenen Wege.

Jedenfalls war es damals mit uns beiden eine zauberhafte und nicht zu wiederholende Geschichte.

Genauso wie der Baum nun schon seit Jahren nicht mehr an diesem Platz steht, wo damals ein ganz besonderer Teil meines Lebens begann.