Sonne so rot

 

Es ist Nacht, es ist kalt und ich friere.

Kein schöner Platz für mich, der die Wärme immer geliebt hat.

Der Wind pfeift durch meine Knochen und ich schaue traurig auf meinem Grab umher, das Ingo heute mit seiner neuen Freundin besuchte und mit frischen Blumen verschönerte.

Ingo und Petra … das war einmal!

Ich weiß noch genau, wie wir uns kennen lernten.

 

Es war an einem strahlendblauen Tag im Freistaat Bayern, im Kloster Andechs, als wir uns das erste Mal begegneten.

Seine Augen waren leicht verwässert, aber das kam sicher nicht davon, weil ihn die Anlagen des Klosters in fromme Verzückung versetzten, sondern eher vom überhöhten Genuss des Starkbiers, das dort ausgeschenkt wird.

 Ja, ich gebe zu, auch ich hatte ein wenig getrunken, als ich zum ersten Mal in seine Augen blickte. Wir waren mit unserem Kulturverein unterwegs und machten hier unseren Abschluss, genauso wie Ingo, der mit seinem Fußballverein unterwegs war. Er war von Anfang an freundlich und unterstützte mich schließlich, wie es sich für einen Hochleistungssportler gehört, meinen Maßkrug zu leeren, aus dem ich nichts mehr herausbrachte. Ich bewunderte ihn, da er so selbstlos dabei vorging und immer wieder zu mir herüberzwinkerte.

Die Konversation zwischen uns beiden gestaltete sich zwar ein wenig schwierig, aber als er mir davon erzählte, dass er mit seinen Fußkollegen bereits einige Gaststätten besucht hatte, die eine hochgradige kulturelle Vergangenheit besaßen, da schlug mein Herz völlig aus dem Takt. Daher war es auch nicht weiter verwunderlich, dass seine Lippen plötzlich an den meinen klebten, und der Kuss mich völlig aus der Bahn warf.

Es war Liebe auf den ersten Schluck!

Der Abschied war kurz und schmerzvoll, da unser Bus eine Stunde später den Ort des Geschehens verließ. Meine Mitfahrerinnen mussten mich stützen, aber ich muss zugeben, dass es nicht allein der Liebe wegen war, die mich in einer großen Woge erfasst hatte.

 

Erst am nächsten Morgen entdeckte ich den Zettel mit seiner Adresse, nachdem ich in stundenlangen Alpträumen Ingo ständig hinterhergerannt war, und es mir nicht gelang, ihn einzuholen.

Unser erstes Telefonat war sehr mühsam, da ich ihn aus dem Bett geholt haben musste und sein Promillepegel noch weit über den Grenzwerten lag. Wie er sagte, war er zum Abschluss des Ausflugs unabsichtlich in ein ziemlich wüstes Gelage geschlittert.

 

Es war ein glücklicher Zufall, dass unsere beiden Heimatorte nicht sehr weit voneinander entfernt lagen, und so trafen wir uns bereits am darauffolgenden Tag, um uns auch in nüchternem Zustand kennen zu lernen. Auch da fanden wir uns noch unheimlich sympathisch und die altbekannten Schmetterlinge durchquerten in großen Schwärmen unsere Bäuche.

Die Treffen fanden schnell regelmäßig statt und wir beide waren wie die altbekannten Turteltäubchen.

Nachdem wir uns ein halbes Jahr kannten, beschlossen wir, künftig nur noch eine Miete zu zahlen und richteten eine gemeinsame Wohnung ein.

 

Eines schönen Tages, es regnete schon über eine Woche ununterbrochen, fand der große Umzug statt.

Wir feierten an diesem Abend in einem griechischen Lokal. Der Ouzo floss in Strömen, genauso wie der Regen, und die kleine Mauer, die zufällig im Wege stand, konnte ich als bequemen Halt benutzen, als ich das Abendessen samt Nachtisch in den dahinter liegenden Garten beförderte.

Am nächsten Tag hatten wir beide ziemlich dicke Köpfe, waren aber ansonsten sehr, sehr glücklich.

 

Wäre das nun eine erfundene Geschichte, so würde diese mit der Aussicht auf ein weiteres harmonisches Zusammenleben von Petra und Ingo hier enden. Die Geschichte ist aber leider wahr, und wie es im Leben des Öfteren geschieht, wandte sie sich nun plötzlich in eine völlig dramatische Richtung!

 

Es gab da eine Kleinigkeit, die ich an Ingo absolut hasste. Ingo war zwar ganz lieb und ein sehr anständiger Mensch, aber er besaß einen gravierenden Fehler: seine Bräune!

Jeder noch so kleine Sonnenstrahl erzeugte auf seiner Haut eine wunderschöne Bräune, die ich nicht besaß.

Und da die Menschen oft neidisch sind und die ungute Angewohnheit haben, dass sie entweder das besitzen müssen, was andere noch nicht haben, oder unbedingt das besitzen müssen, was andere bereits ihr Eigentum nennen, begann eines Tages in mir der Neid zu wachsen.

Alle Frauen im neunzehnten und anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts wären wiederum absolut neidisch auf mich gewesen, da ich so eine hübsche weiße Haut besaß.

Aber ich wollte diesen weißen Überzug nicht!

Ständig musste ich meinen ständig gebräunten Ingo sehen und hätte mir am liebsten die Haare dabei ausgerauft.

Also beschloss ich eines Tages, dass das sich ändern müsse.

 

Ich suchte am nächsten Abends ein Bräunungsstudio auf und knallte mir erbarmungslos die UVs nicht nur um die Ohren.

Da sich weiße Haut und UV-Strahlen nicht so ganz miteinander vertragen, konnte ich nach dieser Überdosis die Farbe meines Körpers durchaus mit dem Rot meines Lippenstiftes vergleichen. Von einem älteren Geschäftskollegen – so ein blödsinniger Karl May-Freak - wurde ich jedenfalls am nächsten Tag nur noch Nscho-tschi, Intschu-tschunas rote Tochter, gerufen.

Drei Tage später normalisierte sich das Ganze einigermaßen, und dieser Idiot taufte mich in Halbblut Apanatschi um.

Nach fünf Tagen wurde mir von einem weiteren ach so lustigen Kollegen, der sich eher auf Filme von George A. Romero spezialisiert hatte, die Rolle in einem Horrorfilm angeboten. Und zwar sollte ich einen zerfledderten Zombie ohne jegliche Maske spielen. Zu dieser Zeit konnte ich nämlich die Haut von meinem Körper schälen, wie die Bananenschale von der Frucht.

 

Wohl oder übel musste ich zunächst mal eine Pause einlegen.

Als sich die Haut nach langen Tagen wieder erholt hatte, begann mein nächster Anlauf. Nach einigen weiteren, diesmal aber sehr vorsichtigen Versuchen in der Strahlenkammer, nahmen die Hautprobleme ab und meine Haut bekam tatsächlich einen kleinen bräunlichen Ton. Als ich eines Tages das Ergebnis dieser wochenlangen Tortur in einem Spiegel begutachtete, begann ich alsbald gar bitterlich zu weinen.

Ich schwor mir, wirklich braun zu werden. Egal wie!

 

Über eine Kollegin, die mir durch ihre Bräune aufgefallen war, kam ich an das ‚Sonnencenter Karibik’.

Meine Kollegin begleitete mich zu dem ersten Besuch. Im Schaufenster prangte der Slogan Hast du Sonne auf der Haut, wird die nicht so schnell versaut, der mir sofort zusagte. Darunter stand, ebenfalls in großen Lettern: Hautkrebs, die Erfindung einiger verrückter Mediziner. Dieser Spruch ließ mich befreit aufjauchzen. Als ich durch meine Kollegin auch noch eine ermäßigte Jahreskarte bekam, war mein Glück nahezu perfekt!

 

Von nun an - im Nachhinein kann ich das ja zugeben - ging es in der Beziehung von Ingo und Petra immer mehr bergab. Beinahe jeden Abend verbrachte ich im ‚Karibik’. Am Anfang waren es nur die UVs, die mich dorthin zerrten, doch irgendwann begann ich mit meiner Kollegin und einigen Gleichgesinnten danach noch auszugehen. Gemeinsam gründeten wir den Club ‚MIB – Monsters in Black’ - und ab diesem Zeitpunkt ging es in der Beziehung von Ingo und mir nicht nur bergab, nein, es begann der freie Fall.

 

Kam ich spätabends beziehungsweise frühmorgens nach Hause, lag Ingo bereits schlafend im Bett. Am Morgen konnte er mir anfangs noch Vorwürfe machen, da war ich noch, bereits mit einer stattlichen Bräune versehen, zum Frühstück anwesend. Später war ihm auch das nicht mehr möglich, da ich an jedem Morgen um halb sieben ins ‚Karibik’ zur Matinee ging. So sah ich Ingo praktisch überhaupt nicht mehr. Nur ab und zu hatten wir tagsüber noch kurzen telefonischen Kontakt.

 

Zu diesem Zeitpunkt nannte mich der alte Idiot in meiner Firma nur noch Grace, da ich anscheinend mit einer gewissen Grace Jones, die ich überhaupt nicht kannte, irgendwelche Ähnlichkeit hatte - zumindest bei der Hautfarbe.

 

Ingo war ziemlich betrübt und fragte mich, natürlich telefonisch, wie lange das noch so weitergehen solle. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, teilte ich ihm mit. Er solle sich doch noch ein klein wenig gedulden. Die Bräune die ich mir schon immer gewünscht hatte, hätte ich jetzt schon beinahe erreicht.

 

An einem dieser Abende kam ich wie üblich spät nach Hause.

Ingo schlief bereits und wurde - was ich natürlich nicht wusste - in seinen Alpträumen, wie so oft in letzter Zeit, von etwa siebentausend tiefschwarzen Menschenfressern durch einen Gral gehetzt. An der Spitze befand ich mich, die Schwärzeste von allen, mit einem Speer in der Hand und gefletschten Zähnen, die bis zu den Ohren reichten.

 

Während sich Ingo so gehetzt völlig unruhig in seinem Bett hin- und herwälzte, setzte ich mich, bevor ich mich auf den Sprung ins Bad machte, gemütlich im Wohnzimmer in einen Sessel und blätterte eine Illustrierte durch.

Dabei wurde ich so unglaublich müde, dass ich mich zum Aufstehen regelrecht zwingen musste. Im Badezimmer angekommen, zog ich mein Oberteil aus und bewunderte dabei meinen tiefbraunen Körper. Ganz zufrieden lächelte ich in den Spiegel und begann ihn zu fragen:

 

"Spieglein, Spieglein an der Wand,

wer ist die Braunste im ganzen Land?"

 

Der Spiegel überlegte kurz, bevor er antwortete:

 

"Ihr, Petra, seid die Braunste hier,

aber hinter den Hecken, um sieben Ecken,

da wohnt ein Mädchen, das ist tausendmal brauner als ihr!"

 

Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse. "Scheiß Spiegel!", sagte ich und streckte ihm die Zunge heraus. Dann lachte ich, nahm die Haarbürste und striegelte mit ihr mein seidenes Haar.

Plötzlich stutzte ich.

Was war mit meinem Haar?

Ich nahm die Bürste herunter, besah sie mir und erschrak fürchterlich. Nicht nur ein ganzes Büschel von meinem Haar hatte sich in den Borsten verfangen, nein, auch die dazugehörende Kopfhaut war daran hängen geblieben!

 

Wie immer in solch überraschenden Situationen, begann mein linker Arm fürchterlich zu jucken. Automatisch ging meine rechte Hand zu diesem Punkt und meine Fingernägel begannen diese Stelle zu bearbeiten. Das, was ich spürte, war nicht normal, und das Entsetzen begann langsam in mir hochzusteigen. Ganz langsam drehte ich meinen Kopf und begutachtete die Stelle, die ich gerade mit meinen Fingernägeln gepflügt hatte. Ich bekam etliche tiefe Spuren zu sehen, aus denen ganz langsam das Blut troff. Sogleich fiel mir das Verkehrszeichen ‚Spurrillen’ ein und ich begann hysterisch zu kichern.

 

Hypernervös begann ich an dem Gürtel zu nesteln, um meine enge Hose auszuziehen. Ich zog an dem Bund wie wild, aber die Hose wollte und wollte nicht rutschen. Darüber wurde ich beinahe verrückt und zog und fummelte noch mehr. Plötzlich rutschte die Hose mit einem grässlichen Geräusch nach unten. Erstaunt sah ich, dass sich noch zwei größere Stücke meiner Pobacken in der Hose befanden. Die Hose war bereits blutig rot und das rotfeuchte Nass bahnte sich bereits einen Weg auf den Boden.

 

Um mein Kreischen zu unterdrücken, das sich in meiner Kehle aufstaute, steckte ich die Finger der linken Hand in meinen Mund. Es war nicht gerade sehr erfreulich, dass sich, als ich die Hand wieder herauszog, die Finger immer noch in meinem Mund befanden. Ich spuckte alle vier auf den Boden und begann jämmerlich zu schreien.

 

Ingo fiel beinahe aus dem Bett, als er mein Kreischen, Schreien und das Wimmern hörte. So schnell er konnte, rannte er in das Badezimmer. Als er dieses erreichte, sah er, dass er zu spät gekommen war.

Auf dem geplätteten Boden befand sich nur noch eine große blutigschwarze Masse, die blubberte und dampfte. Stinkende Schwaden stiegen von dieser Masse auf und verpesteten das ganze Badezimmer. Je mehr die Masse brodelte und dampfte, umso kleiner wurde sie. Schließlich war nur noch eine kleine Lache übrig, die sich langsam vollends auflöste.

 

Auf dem Spiegel hatte ich die mahnend die Worte, zuerst mit dem rechten Zeigefinger und dann, als der alle war, mit den restlichen dreien geschrieben:

 

„UV-Strahlen machen rot,

dann braun, dann schwarz und schließlich tot!“

 

Schweißüberströmt fuhr ich aus dem Wohnzimmersessel hoch und betastete mich.

Endlich, nach längerer Zeit der Ungewissheit, atmete ich erleichtert auf.

Ein Traum. Es war ein Traum gewesen. Ein Albtraum!

Nie mehr, dachte ich.

Nie, nie mehr das ‚Karibik’!

 

Und ich hielt mich tatsächlich drei Wochen an mein selbst gegebenes Ehrenwort.

 

Ingo wunderte sich in der ersten Woche zwar, dass ich tatsächlich jeden Abend bei ihm war, freute sich dann aber sichtlich, dass sich unser Zusammenleben wieder zu normalisieren schien.

 

Doch nach diesen drei Wochen sah ich mit Schrecken, dass meine ach so hart erkämpfte Bräune mich langsam aber sicher wieder verließ. Ich konnte das Elend noch weitere fünf Tage ertragen, dann war es wieder soweit. Die Alpträume verblassten ebenso wie meine Bräune. Das ‚Karibik’ hatte mich wieder!

 

Es war in der zweiten Nacht nach meinem Rückfall, als mir im Traum ein Engel erschien. Da es eine sehr blasse Ausgabe dieser Lichtwesen war, nahm ich ihn auch nicht sonderlich ernst.

„Du bist der erste Engel, der mir begegnet, und außerdem wirkst du ziemlich bleich. Hast du dort oben keine Sonne?“

Der Engel lächelte. „Hier oben gibt es wichtigere Dinge als gebräunte Haut.“

„Dann ist es nicht erstrebenswert, dorthin zu gelangen.“

„Kommt darauf an. Du bist übrigens ziemlich dicht davor.“

„Wieso ich? Ich bin jung und habe mein Leben noch vor mir.“

„Und wie willst du es verbringen? Die ganze Zeit in dem Kasten, der deine Haut verschmort und dich auf Dauer krank macht. Fühlst du dich dabei vielleicht glücklich?“

„Es ist mein ganzes Glück“, bestätigte ich dem Engel.

„Glück und Glas, wie leicht bricht das.“

„Ach, verschwinde, du bist doch bloß neidisch, weil du aussiehst wie ein weißes Bettlaken mit Flügeln dran!“

„Pf … dann leg dich doch in dein Verderben!“

Ziemlich beleidigt schwebte er von dannen.

 

Ich lachte über diesen blödsinnigen Traum, als ich am Morgen erwachte, und freute mich schon auf die Matinee.

Aber der Geflügelte hatte mich reingelegt. Als ich mich gemütlich unter den UVs räkelte, da brach tatsächlich das Glas.

Mein süßer Hintern wurde kurzfristig wie ein saftiges Lendensteak gegrillt und als auch noch ein Kurzschluss hinzukam, da verwandelte sich das Ganze in einen elektrischen Stuhl - äh, nein - in eine elektrische Bank!

Als sie mich schließlich fanden, da war ich so braun, wie noch nie in meinem Leben.

 

Es ist Nacht, es ist kalt und ich friere.

Ab und zu kommt das geflügelte Bettlaken vorbei und fragt, ob ich es nach oben begleiten wolle.

Ich habe zwar darüber nachgedacht, aber wahrscheinlich gehe ich mit den schwarzen Halunken einen Stock tiefer, denn dort wird mein scheußlich weißes Gerippe vermutlich durch das Höllenfeuer wenigsten ein bisschen gebräunt …